Ein Blick in die Glaskugel
Wer nichts erwartet, wird nicht enttäuscht: Dieser Aphorismus mag wie ein lächerlicher Kalenderspruch klingen, wenn das ohnehin furchtbare Bezirksligaspiel aufgrund strömenden Regens auf den ausbaulosen Kunstrasenplatz verschoben wird. Umso zutreffender ist er jedoch, wenn Benelux auf magische Weise verzaubert.
Seit jeher befinde ich mich im Zwiespalt, was Reisen in die Benelux-Staaten betrifft. Klar, Luxemburg ist eben Luxemburg. Eine derart tautologische Erklärung reicht angesichts der überschaubaren Möglichkeiten des Landes aus. Wer die Handvoll ansehnlicher Sportstätten abgehakt hat, dürfte allein zwecks Durchreise oder günstigen Sprits sowie Tabaks die Grenze passieren. Die Niederlande und Belgien sind hingegen schwieriger zu beurteilen. Essen, Städte und Stadien schwanken zwischen Himmel und Hölle. So abstoßend Brüssel auch sein mag, so hübsch ist Brügge und so schmackhaft sind die Fritten. So sehr das frittierte Snickers den Magen verdirbt und die holländischen Klinkerbauten aufs Gemüt schlagen, so unterhaltsam sind doch die bekifften Bewohner mit ihrer Sprache aus Grunzlauten. Vereinfacht ausgedrückt: Als Deutsche vereint uns eine Hassliebe mit den orangenen Lamas in ihren Campern und den Kinderschändern um Marc Dutroux.
Im Januar hält sich die Auswahl an Fußballspielen bekanntlich in Grenzen. Dementsprechend sollte der Wochenendausflug in die Nachbarländer eher behelfsmäßig sein. Im niederländischen Doetinchem angekommen, legten wir unsere Habe zunächst in der kostengünstigen und zugleich luxuriösen „Villa Ruimzicht“ ab, ehe wir uns mit regionalen Produkten eindeckten und anschließend in Richtung Stadion begaben. Sowohl die Außen- als auch die Innenansicht waren nicht so schrecklich wie erwartet und nachdem die mitgebrachten Euronen in Plastikchips verwandelt waren, konnten wir einer mäßigen Frikandel sowie flüssigem Stimmungsverbesserer frönen. Einzig eine Frage geisterte weiterhin durch den Kopf: Warum heißt der hiesige Verein nun eigentlich „De Graafschap“?
Die Erklärung ist denkbar einfach: Der hintere Teil der Provinz Gelderland – auch Achterhoek genannt – gehörte bis zum 16. Jahrhundert der Grafschaft Zutphen, bevor die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande gegründet wurde und das als „De Graafschap“ bekannte Zutphen ihr beitrat. Als wichtigste Stadt dieser Region trägt nun der in Doetinchem ansässige Verein diesen historischen Namen. Warum sich der Besuch des Zweitligisten wider Erwarten lohnen sollte, wurde gleich beim Betreten des Stadioninneren in rudimentären Zügen ersichtlich. Über dem Geländer des Eckeingangs lag bereits ein großer Stofffetzen und in Front des danebenliegenden Blocks der Brigata Tifosi waren einige Seile gespannt. Hier bahnte sich tatsächlich eine Choreo an! Nach wohlüberlegter Abwägung setzten wir uns deshalb etwas weiter an den Rand der Hintertortribüne und warteten geduldig das Einlaufen der Mannschaften ab. Kurz beschlich mich das ungute Gefühl, dass ich mich für den Sitzwechsel schämen würde, sobald das Ziehen an den Seilen vollendet ist. Inmitten meines Gedankengangs ging dann das Spektakel los: Die machen eine Magierchoreo; ich werd‘ verrückt!
Die Zebras kommen
Ich sollte mich schämen, auch nur eine Sekunde an De Graafschap gezweifelt zu haben. Hatte ich eingangs nicht einmal mit einer bei der Recherche entdeckten Traktorchoreo gerechnet, war ich nun vollkommen baff. Eine Schar von Blinkern gesellte sich zu den gelben Lichtern ohne Rauchentwicklung. „Kijk vooruit. Niets is hier onmogelijk!“ Zwischen Kerzenständer und Totenkopf blickte ein Hellseher mit schwarzer Kapuze in seine Kristallkugel und sagte die Meisterschale voraus. In Anbetracht des Tabellenplatzes zwar angebracht, in Anbetracht der Liga jedoch unrealistisch. Doch wen kümmert es? Wer eine Magierchoreo raushaut, darf gerne von der Schale träumen oder sich von den restlichen Fans auf der Hintertortribüne abspalten. Die dünnen Rauchschwaden zogen über den Hellseher hinweg und erzeugten ein mysteriöses Gesamtbild. Ich kam fast um vor Glück. So eine Darbietung der mit Duisburg befreundeten Zebras konnte wahrlich niemand vorhersehen – allenfalls der abgebildete Kapuzenmann.
Das Spiel selbst war ebenfalls unterhaltsam, auch wenn die gelassene Stimmung meiner Wenigkeit nur durch die Gedanken an das Intro sowie zwei Böller unterbrochen wurde. Letzterer sorgte für einen derartigen Schreckmoment, dass der Inhalt eines randvollen Bechers sich den Weg auf meine Jacke bahnte. Da zuckst du mit keiner Wimper, wenn Partizani einen ohrenbetäubenden Böller auf Marko Marin werfen, aber bei De Graafschap fährst du zusammen wie ein schüchterner Schuljunge, den ein Rowdy mit wedelnden Fäusten bedroht. Was für ein geiler Verein; was für unbändige Fans. Hauen die echt eine Magierchoreo raus; was zum Teufel geht hier eigentlich ab? Nachdem die Gastgeber bereits nach wenigen Minuten den Pfosten trafen, häuften sich deren Chancen. Einzig das Elfmetertor der Gäste unterbach diese Flut an Möglichkeiten. Erst zehn Minuten vor Schluss hatte der Fußballgott ein Einsehen und gewährte den längst überfälligen Ausgleich. Nahezu obligatorisch ließen die Hausherren nun alle weiteren Führungstreffer liegen, sodass ich kurz vor Abpfiff nun selbst zum Hellseher mutierte. „Den haut er drüber“ – es war zum Heulen, wie die Unfähigkeit der Stuürmer sich bewahrheitete. Doch nur eine Minute später – in der fünften Minute der Nachspielzeit – sollte De Graafschap meine Frotzeleien ein zweites Mal bestrafen. Das Ding war drin. Ein magischer Sieg. Holland, warum hab ich an dir gezweifelt?
Nachdem ich zwei durch die Magierchoreo ausgelöste, nahezu manische Lachanfälle auf dem Rückweg und im Bett überlebt hatte, ging es am nächsten Tag zu christlicher Stunde nach Werkendam. Der Ort besteht ausnahmslos aus einem Wohngebiet mit Klinkerbauten. Ein „Albert Heijn“ und das Stadion der Kozakken Boys schienen die einzigen Ausnahmen zu sein. In Ersterem wurde sogleich eingekauft, sodass am Gewässer in Stadionnähe ein holländisches Frühstück samt Räucherkäse und Humusaufstrich aus Mett genossen werden konnte. Die bisher unerprobte Cola Zimt rundete diese Gourmet-Mahlzeit hervorragend ab. Das anstehende Spiel konnte nunmehr und in Anbetracht des gestrigen Abends nicht enttäuschen, obwohl die Partie an diesem Wochenende wohl eher der Notlösung einer Notlösung gleichkam.
Auch der „Sportpark De Zwaaier“ stellte sich jedoch als ansehnlicher heraus, als die Fotos es vorab vermuten ließen. Die kleine Tribüne, die Bemalungen an der Wand der Gegenseite und ein aufblasbarer Kosake überzeugten auf Anhieb. Zudem war ein guter Teil der Bevölkerung zu diesem Wochenhighlight aus den einheitlichen Häusern gekrochen und die Fritteuse in der überdimensionierten Vereinskneipe wusste mit ausgezeichneten Frites Special sowie einer schmackhaften Kroket zu begeistern. Die Aktivitäten auf dem Rasen blieben allerdings nur bedingt in Erinnerung. Obwohl der Heimmannschaft gar zwei Tore gelangen, war ich froh, als der Schiedsrichter dem Treiben ein Ende setzte und wir zum eigentlichen Höhepunkt der Tour aufbrechen konnten.
Doch Halt! War der Vereinsname von De Graafschap noch ansatzweise herleitbar, sorgten die Kozakken Boys für eifriges Rätseln. Jeder Besucher wurde auf seine mögliche Ahnenschaft hin untersucht – vergeblich. Denn obwohl der Vereinsname eine Migrantenmannschaft nahelegt, geht er auf eine historische Begebenheit lange vor der Vereinsgründung 1932 zurück. Im Jahre 1813 befreite ein Donkosakenheer das Örtchen Werkendam von den französischen Besatzern und damit von der Herrschaft Napoleons. Grund genug für einen aufblasbaren Kosaken mit Glubschaugen, das sehe auch ich im Nachhinein ein, obwohl ich dem kleinwüchsigen Irren weitaus wohlgesinnter bin als so mancher waschechte Preuße aus nord-östlicheren Gefilden.
„Das ewige Wunder“
Wie im ersten Absatz angeklungen ist, bin ich kein Fan der belgischen und europäischen Hauptstadt. Trotz einiger schöner Ecken und Sehenswürdigkeiten wurde ich mit Brüssel bisher einfach nicht warm. Die Gründe würden den ohnhin für viele Leser zu langen Text sprengen, weshalb ich nur auf ein zustimmendes Nicken zählen kann, wenn es euch ähnlich ergangen ist. Was das Angebot an Ranzstadien betrifft, wissen Stadt und Land jedoch gleichermaßen zu überzeugen. Das während des Ersten Weltkriegs begonnene und 1919 fertiggestellte Stade Joseph Mariën ist somit trotz seiner Imposanz sicher nur eine von vielen geilen Schüsseln im Großraum Brüssel. Ich freute mich deshalb wie Bolle, der Heimstätte von Royale Union Saint-Gilloise endlich einen abendlichen Besuch abstatten zu können.
Allein der Verein weiß ob seiner Tradition zu überzeugen. Mit elf gewonnenen Meisterschaften rangiert er auf Platz 3 der belgischen Rekordmeister – gar einen Titel vor Standard Lüttich. Seine glorreichen Zeiten liegen jedoch weit zurück: Sieben Meisterschaften und beide Pokalsiege des 1897 gegründeten Clubs gelangen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein Titel lässt seit 1935 auf sich warten. 1981 erreichte man mit dem Abstieg in die vierte Liga gar den absoluten Tiefpunkt der Vereinshistorie. Seither war USG nie wieder erstklassig. Ganz im Gegensatz zum Stadion, das aufgrund der Haupttribünenfassade, dem leuchtenden Vereinslogo an deren Seitenwand, den markanten Flutlichtern auf dem Dach und der steilen Gegentribüne ein wahres Prachtstück ist. Spätestens als die Vereinshymne „Le chants des goals“ von Jean Narcy erklingt, bin ich Feuer und Flamme für das „ewige Wunder“ Union. Hier lässt es sich trotz Kälte aushalten. „L’Union fait belle.“ Nur mit den Maximen haben es die Herren nicht so, wenn direkt über einem blau-gelben Antifa-Aufkleber der Spruch „Just Football. No Politics“ prangt.
Während ein Großteil der Zuschauer noch hinter dem Tor in Richtung Gegentribüne trottet, fällt schon das erste Tor für die Gäste. Die mitgereisten OHL-Fans gehen natürlich steil und verschaffen sich wie auch während der restlichen Spielzeit, trotz geringer Anzahl, ordentlich Gehör. Die Abkürzung des Vereinsnamens steht überraschenderweise jedoch nicht für Oberste Heeresleitung und muss somit nicht wie zuvor erläutert werden. Das 0:2 folgt bei Fuß beziehungsweise bei Kopf. Hohe Hereingaben vom kurzen Pfosten sind bisher das größte Problem des Heimkeepers, während seine Vorderleute jegliche Chancen verballern. In der zweiten Hälfte gelingt dann endlich der Anschlusstreffer, nachdem der Gästekeeper zu forsch aus dem Sechzehner geeilt war. Glück für ihn, dass der Schiedsrichter den Treffer aufgrund eines angeblichen Fouls nicht gibt. So hat sich Verletzung und Auswechslung des Mannes zwischen den Pfosten wenigstens gelohnt.
Die Gastgeber zeigten sich von diesem Rückschlag jedoch nur mäßig beeindruckt. Gleich im Anschluss donnern sie den Ball nach einem Freistoß so lange auf das benetzte Rechteck, bis die Kugel endlich in den Maschen zappelt und nach einem Eckball gelingt nur vier Minuten später der Ausgleich. Während die Ordner den Gästefans ein „KBFV Maffia“-Spruchband abnehmen, haben die Heimfans einiges zu feiern. Akustisch vernehmen kann man sie trotz der Größe des Mobs und einer augenscheinlich hohen Mitmachquote jedoch nicht. Obwohl wir direkt neben dem Haufen stehen, begünstigt die Architektur des Stadions scheinbar allein die Gästefans. Die Lieder der USG-Anhänger erklingen wie ein leiser Gesang von Seiten der Haupttribüne. Die eigentliche Lautstärke wird erst deutlich, als wir uns während des Spiels auf die Erhöhung hinter dem Tor begeben, um die ab und an gezündeten, kleinen Rauchschwaden aus der Menge emporsteigen zu sehen. Die Chance zur Führung können die gelben Mannen jedoch trotz der guten Unterstützung nicht nutzen und so passiert, was passieren muss. Leuven flankt in der 90. Minute auf den langen Pfosten und netzt zum Siegtreffer ein. Etliche Zuschauer stehen noch in der Dauerschlange zu den Verpflegegungsständen, als der schmachvolle Schlusspfiff ertönt und wir die Rückreise nach Holland antreten.
Ein britischer Touch in Deventer
Ich werde nicht müde zu betonen, dass ich auch vor dem letzten Kick der Tour meine Bedenken hatte und dies bei Ankunft am Stadion revidieren musste. Mit jedem Schritt in Richtung der gigantischen Fluter verstärkt sich die magische Anziehungskraft. Am „Adelaarshorst“ angekommen, fühle ich mich beinahe auf die Insel versetzt. Eine Gegentribüne mit kleinem Dreieck inmitten des Daches, eine gigantische Hintertortribüne, die vage an den Selhurst Park erinnert, die Dominanz von Backstein – ich bin begeistert. Auch wenn die gespannten Seile auf der unschöneren Hintertorseite letztlich keine Choreo bedeuteten, durfte ich mich dennoch über einige Luftschlangen zu Spielbeginn freuen. Inselatmosphäre inklusive: Je nach Spielsituation steigt das ganze Stadion in die teils englischen Gesänge ein, ansonsten singt nur ein kleiner Haufen. Das Repertoire reicht von „Come on Eagles“ bis zu „You’re fucking shit“. Seinem Namen wird der Verein zweifelsohne gerecht.
Den Vorläufer des heutigen Vereinsnamens erhielten die Eagles jedoch erst drei Jahre nach der Gründung. Bis 1905 spielten sie als „Be Quick“. Mit der Devise „Vorwärts“ statt „schnell“ konnten sie bis 1933 gleich vier Meisterschaften erringen und dienten etwa als Ausgangspunkt für die Karrieren von Bert van Marwijk und Marc Overmars. Selbst der Rekordhalter für die meisten Einsätze in der Eredivisie, Torhüter Jan Jongbloed, diente in 81 seiner 717 Erstligaspielen für den Verein aus Deventer. Er war unter anderem durch eine Unsportlichkeit auf dem Platz berühmt geworden, als er einen Ajax-Spieler im Stadtderby als „vuile rot-Jood“ („dreckiger, verotteter Jude“) bezeichnete. Seit 1971 tagen die Go Ahead Eagles die endgültige Ausgestaltung ihres heutigen Namens.
Nicht so furios wie dieser Skandal aber denoch unterhaltsam sollte das Spiel werden: Nachdem ein Adler die einlaufenden Mannschaften begrüßt hatte, verschenkten die Akteure über Dreiviertel der Spielzeit eine derartige Vielzahl an Chancen beziehungsweise die Torhüter parierten auf so grandiose Weise, dass man meinen konnte, ein Tor sei undenkbar. Dann erzielte Almere City endlich den Befreiungsschlag, den die Gastgeber nur zwei Minuten später egalisierten. Was für ein Spiel und was für eine Kälte. Da half dem Baumgartlinger-Double der „Adler“ auch seine Haarpracht nichts. Die Zähne schlotterten, die Bude war wie vernagelt und seine Standards erreichten nie das Ziel. Kurz vor Schluss verwunderte es dennoch, dass die Eagles den Sack nicht zugemacht haben: Schließlich hatten wir auf dieser Tour schon zwei sensationelle Treffer in den letzten Minuten erlebt.