Merguez, Fritten und Nebelsuppe
Ein Fußballwochenende ist oftmals vergleichbar mit einem Mehr-Gänge-Menü in einem neu eröffneten Restaurant. Noch bevor der Gast am Tisch Platz genommen hat, hegt er hohe Erwartungen an mindestens eine der zubereiteten Speisen – was letztlich auf dem Teller landet unterliegt dem Überraschungseffekt und der Geschmacksfrage.
Manchmal muss man eben alleine Speisen; alleine Reisen. Nachdem der letzte Ausflug in die beiden größeren Beneluxländer nur positive Erfahrungswerte hervorbrachte und mir durchgehend die Magierchoreo von „De Graafschap“ vor dem inneren Auge herumspukte, war das Gefährt auch ohne Mitfahrer rasch gesattelt. Denn in Holland, Belgien und Frankreich wartete ein fantastisches Drei-Gänge-Menü darauf, endlich verspeist zu werden – ein Gruß aus der Küche inklusive.
Drei Tage, drei Länder und vier Spiele: Es ist unübersehbar, welcher Faktor die Drei-Gänge-Analogie scheinbar zunichte macht. Doch was wäre ich nur für ein Gourmet, wenn ich einen Aperitif verneine oder den Gruß aus der Küche zurückgehen lasse? Noch am Abend vor der Abreise war unklar, ob ich mit dem Freitagsspiel in Nijmwegen eher ein appetitanregendes Gesöff oder ein überraschendes Häppchen in Helmond zu mir nehmen würde. Aufgrund der Nähe zur belgischen Grenze entschied ich mich schließlich für die letztere Option, wohlwissend, dass es sich lediglich um einen Korb trockenes Brot handeln könnte. Insgeheim hoffte ich natürlich auf eine Magierchoreo, das Rindercarpaccio der Freitagsspiele, und wurde nicht enttäuscht.
Einen Brand auf Freitagsspiele
Zunächst sah es jedoch nicht danach aus, dass mir ein derartiger Service vergönnt wäre. Knapp eine Stunde vor Anpfiff fanden sich außer mir etwa zehn weitere Zuschauer in dem ansehnlichen, kleinen Stadion mit drei Tribünen ein. Die „aktiven“ Fans der Heimmannschaft konnten nach Anpfiff ebenfalls in dieser Größenordnung beziffert werden und blieben über 90 Minuten inaktiv. Bis auf ein schönes Wandgemälde auf der Hintertorseite wird in Holland eben meist nicht viel geboten. Denkste! Während ich die langsam eintreffenden Zuschauer und mich ob der Kälte bedauerte, füllte sich allmählich der Auswärtsblock. Der FC Den Bosch lockte einen respektablen Haufen ins Stadion und dieser stellte sich sogleich kompakt auf, beflaggte den Zaun und fing an zu singen.
Diese Tatsache allein machte mir den Gruß aus der Küche schon schmackhaft, doch was dann mit Beginn des Spiels folgte, ließ ich mir auf der Zunge zergehen, bis jeder Geschmacksnerv eine Portion abbekommen hatte. Mit dem Verteilen der drei Schwenkfahnen ging eine kleine Blockfahne hoch, ein Blinker initiierte den Gang des Obers zu meinem Tisch, Bengalfeuer leuchtete auf und der Mob startete mit äußerst gekonnter Trommeluntermalung den über die volle Spielzeit andauernden Support. „Ist der Herr zufrieden? Hat es Ihnen geschmeckt?“, höre ich den Mann mit weißem Hemd und schwarzer Weste noch fragen, ehe ich mich gedanklich auf den nächsten Gang vorbereite. „Klar man, richtig gutes Zeug. Könnte ich plattenweise inhalieren“, posaune ich ihm euphorisch entgegen. Nur das 0:0 hinterließ einen faden Beigeschmack. Angesichts der vielen Chancen auf Gastgeberseite und einiger gelungener Dribblings sowie Konter von Den Bosch hätte ein Tor gegen die Kälte wirklich gutgetan.
Nach einer geruhsamen Nacht im luxuriösen und für diese Verhältnisse preiswertigen „Van der Valk Hotel“ in Eindhoven war es endlich Zeit für die Vorspeise. Zwar gab es eine Reihe guter Alternativen, doch letztendlich bestach bei dem Blick in die Speisekarte einzig der Racing Club de Lens. Schon zu lange hatte ich mir einen Besuch vorgenommen, beinahe peinlich war mir mein bisheriges Fortbleiben. Immerhin haben Vereinsname, Stadion und Fans seit jeher Sympathien in mir geweckt. Mit zunehmendem Nebel erreichte ich das wuchtige Stadion und parkierte problemlos im nahegelegenen Wohngebiet: Der riesige Parkplatz hinter der Gegengeraden hätte es sicher auch getan. Polizisten mit Gesichtsschutz und Maschinenpistolen, Böllerexplosionen und Merguez. Endlich wieder Frankreich! Vor allem das kulinarische Angebot vor dem 40.000 Zuschauer fassenden Stadion in dem 30.000 Einwohner zählenden Städtchen zeigte die perfekte Symbiose sofort auf. Nach französischem Vorbild wurde ein schmackhaftes Baguette mit einer Merguez ausgestattet, nach belgischem Vorbild waren die Fritten der Américaine-Ausführung keineswegs labbrig und die Samurai-Sauce floss aus vollen Spendern. So lob ich mir das ihr Belgo-Franzacken.
Rentner-Ultra mit Megafon
Zum ursprünglich einzig nach Félix Bollaert, dem Vorsitzenden der örtlichen Minengesellschaft, benannten Stadion muss wohl wenig geschrieben werden. Als Austragungsort der WM 1998 und der EM 2016 sind die vier freistehenden, bestialischen Tribünen, deren Sitze sich bis tief unters Dach schmiegen, sicherlich hinreichend bekannt. Beachtung verdient vielmehr die Vereinsgeschichte, die in den letzten Jahren trotz sportlich teils guter Leistungen nichts vom Glanz der Erstklassigkeit abbekommen hat. Dabei kann der Kumpelverein der „Gueules noires“ („Schwarzfressen“) Tradition en masse vorweisen. Nachdem der 1906 gegründete Club in den 70ern nahezu in die Bedeutungslosigkeit absackte, kämpfte er sich wieder noch oben und zugleich auf die internationale Bühne. Auch auf den zweiten sportlichen Niedergang folgte eine Phase des Aufbegehrens, die durch die größten Erfolge der Vereinsgeschcihte gekrönt wurden. Als Pokalfinalist stets vom Pech gebeutelt, konnte Lens 1994 und 1999 immerhin den Ligapokal gewinnen, 2005 wurde der UI-Cup nach Nordfrankreich geholt und 1998 geriet die Pokalfinalniederlage gegen PSG in Vergessenheit, als der punktgleiche FC Metz in der Meisterschaft das Nachsehen hatte.
Spielerisch verkam die nebelige Partie gegen die Neugründung des ehemals insolventen Fusionsclubs aus Clermont-Ferrand jedoch zum Offenbarungseid: Wer in der zweiten französsichen Liga mitspielt, muss nicht zwangsläufig guten Fußball aufs Feld bringen. Spätestens als die Gäste nach einem Querpass freistehenden zum 0:1 einschoben, glaubte ich nicht mehr an den Ausgleichstreffer. Doch auch wenn dieser nicht mehr erfolgt wäre, die Atmosphäre konnte sich sehen lassen. Bereits zu Beginn kam Gänsehautatmosphäre auf, als alle Schals zur Bergarbeiterhymne „Les Corons“ von Pierre Bachelet geschlossen nach oben gingen und auf der Gegengeraden unzählige Fahnen, Papierschnipsel und Kassenrollen vom Wind ergriffen wurden. Auch während des Spiels blieb ein Großteil der Fahnen in Bewegung, die Gesänge waren erwartungsgemäß ansprechend und es wurden gar zwei rote Rauchtöpfe gezündet. Dass jedoch noch Luft nach oben ist, bemerke nicht nur ich: Immerhin gerieten die Vorsänger in typischer Frankreichmanier nach fast jedem Lied in einen Laberflash und appelierten an die geschonten Gesangsorgane. Einzige Ausnahme war dabei wohl ein mutmaßlich weiblicher Rentnercapo mit Megafon, der die Szenerie einfach nur abfeierte und mit erhobener Faust jede gesungene Silbe genoss. Mein Lieblingswechselgesang „Qu’est ce que vous chantez?“ war dennoch nicht dabei und muss demnach in einem Derby gegen Lille den Weg in die Ohren finden – sollte Lens nach langen Mühen endlich aufsteigen.
Direkt nach dem Spiel ging es eilig zum Auto, denn wie sich bewahrheiten sollte, war der reichliche Puffer schnell dezimiert. Als wäre es selbstverständlich, schalteten die Franzmänner die zuvor tadellos funktionsfähigen Ampelanlagen alle aus – außer diejenigen mit einer Taktung von wenigen Sekunden – und überließen die Autofahrer auf der elends langen Allee dem Schicksal und dem Stau. Während also ein Dutzend Fahrzeuge die Grünphase einer Kreuzung blockierten, weil sie nicht noch zehn Ampelphasen warten wollten, wurde an den undirigierten Kreuzungen und Zufahrten schlicht Tetris mit Personenkraftwagen gespielt, bis das Knäuel aus Gefährten unentwirrbar in alle Richtungen stehend zum endgültigen Stillstand kam. Zum Hauptgang schaffte ich es dennoch rechtzeitig durch die Nebelsuppe nach Mechelen, wo mir sofort das Wasser im Mund zusammenlief und die Tränen in die Augen stiegen, als ich an einen drohenden Neubau dachte, den der Verein in der Provinzliga sicherlich nötig hat, nicht.
Überragende sieben Tore und ein Stadion zum Niederknien – mehr lässt sich zu der Partie von Racing Mechelen abseits der Fotos fast nicht sagen. Trotz immer stärker werdenden Nebels und zunehmender Kälte verging an diesem Ort die Zeit wie im Fluge. Dies empfand wohl auch der zweistellige Mob an Tommys so und grölte in britischer Manier einen Klassiker nach dem anderen, indem sie allseits bekannte Lieder auf Racing Mechelen ummünzten. Abseits der Tribüne und der ikonischen Wellenbrecher sollte dies jedoch nicht die einzige Erinnerung an die Bewohner der Insel hervorrufen, denn während ich anfangs noch dachte, die Aussprache des Vereinsnamens sei bei den sangesfreudigen Zuschauern sprachbedingt, musste ich anhand der Vereinslieder feststellen, dass Racing in diesem Fall offenbar wirklich englisch ausgesprochen wird. Falls jemand weiß, warum dies so ist, oder ob der enorm große Britenpulk öfter nach Mechelen pilgert, würde ich mich über Aufklärung in Form einer Nachricht freuen.
Kaum fünf Minuten unterwegs forderte der Nebel beinahe seinen ersten Tribut, als ich mit den vorgeschriebenen 50 km/h gleich zwei Mal äußerst unsanft und reifenschädigend über eine scharfe Kante im Baustellenbereich bretterte und anschließend von links auf die Autobahn fuhr. Während ich im ersten Moment noch sicher war, mein erstes Geisterfahrermanöver zu erleben, klärte sich nach dem ersten überholenden Auto auf, dass die Belgier tatsächlich so verrückt sind und zufahrende Autos über die Überholspur auf die Autobahn lotsen. Sowas habe ich im Rechtsverkehr wirklich noch nie erlebt.
Etwas Moos zum Dessert
Nach etwas Verschnaufpause zum Sackenlassen des Hauptgangs ging es am nächsten Morgen zum Dessert über. Meine Fresse, was für eine Leckerei! Es wird zwar auf ewig ein Geheimnis bleiben, warum im Jahre 1948 diese größenwahnsinnige 40.000er-Schüssel inmitten eines gehobenen Wohngebiets mit Hügellage eröffnet wurde, doch ich konnte nicht aufhören, jede verlebte Sekunde in mich hineinzustopfen. Zwar durfte sich der damalige Auftraggeber, der Royal Racing Club Bruxelles, mit mehreren Meisterschaften um 1900 noch erfolgreichster Club Belgiens nennen bis die Siege nach dem Ersten Weltkrieg ausblieben, doch auch dieser traditionsreiche Club konnte die Hütte wohl nie füllen – geschweige denn die heutige Heimmannschaft. Einzige Ausnahme dürfte das Eröffnungsspiel gegen niemand geringeren als den AC Turin „Il Grande Torino“ sein, der zur damaligen Zeit italienischer Meister war und nur vier Monate später beim tragischen Flugzeugabsturz von Superga die gesamte Mannschaft zu Grabe tragen musste.
Meiner Meinung nach handelt es sich bei dem Drie Linden Stadion um das eindrucksvollste und schönste in ganz Belgien. Ich kann jedem empfehlen, sich hier die desaströse Leistung der Heimmannschaft zu Gemüte zu führen, das weiche Moos unter den Füßen zu spüren und den Geruch von wahrem Fußball einzuatmen. Eine Rezeptur, die jedem Gourmet das Lockern des Gürtels und ein saftiges Trinkgeld wert sein sollte. Dass diesem Aufruf auch bekannte Gesichter folgten und eine Halbzeit in Gesellschaft verquatscht werden konnte, wäre angesichts der hypnotisierenden Wirkung der grünen Weite des Runds lange nicht so notwendig wie bei einem Kunstrasenplatz im Industriegebiet gewesen. Immerhin konnten gemeinsame Pläne für kommende Stadionbesuche geschmiedet werden. Wir sehen uns in Drogenbos!