Rezensionen

Republikflucht #11

Die elfte Ausgabe der „Republikflucht“ ist vor allem eines: extrem fett! Und das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Die perfekte Kreuzung aus einer übergewichtigen US-Amerikanerin, die einen 20er-Eimer bei KFC als Vorspeisensalat betrachtet und einem eloquenten Polonistik-Professor mit Tweed-Sakko.

Ich gebe es offen zu: Die Republikflucht war für mich schon vor dieser Ausgabe das beste Groundhopping-Heft auf dem Markt. Obwohl und gerade weil ich nicht zu den eifrigsten Polenkennern gehöre, hat mich die Expertise der Schreiberlinge stets fasziniert. Doch was zu Beginn dieses Jahres in meinem Briefkasten gelandet ist, darf ohne Zögern als Meisterwerk bezeichnet werden.

275 vollfarbige Seiten für fünf Euro! In Anbetracht dieser preisgünstigen Völlerei könnte das Exemplar ebensogut in einem Wallmart angeboten werden. Warum es hingegen in die Feinkostabteilung gehört, will ich in dieser Rezension darlegen.

Schön wie eine Balkangöttin

Das Erscheinungsbild und die Fotoqualität ist wie in den Ausgaben zuvor erstklassig und das Versprechen des Vorworts – den Schnappschüssen noch mehr Raum zu geben – hat der Postille den letzten noch fehlenden Sonnensticker im Hausaufgabenheft beschert. Keinem anderen Magazin ist es derart gelungen, den Lauf der Zeit mittels eines Knopfdrucks auf der Kamera so stillstehen zu lassen und wer das Vorwort aufschlägt, bekommt direkt zu Beginn einen imposanten Eindruck davon.

Großväterchen raucht entspannt eine Zigarette, während sich neben ihm ein maskierter Rabauke im Maleranzug bereitmacht, die allseits beliebten Wunderkerzen zu entfachen. Was könnte bitte mehr Vorfreude auf den Inhalt der kommenden Seiten schüren? Vielleicht ein Blick über die Haarschnittminimalisten von Odra Opole während die Insassen des Auswärtsbusses ihnen wutentbrannt die Mittelfinger entgegenrecken oder ein intimer Moment in Form eines Heiratsantrags vor der Levski-Kurve? Kein Problem. Ausgabe 11 kann damit dienen.

Bemerkbar machen sich auch altbewährte Stärken wie die individuelle, visuelle Anpassung der einzelnen Touren sowie kleine Neuerungen: etwa Trillerpfeifen am Ende des Spielberichts oder Piktogramme für zu Ende gegangene und anbrechende Tage. Auch die neu eingeführten Anmerkungen im Sinne einer „Factbox“ passen perfekt ins Konzept. Zu Meckern gibt es wahrlich nichts. Die Republikflucht ist schon lange in der Sphäre der Hochglanzerzeugnisse angelangt und befördert „Cosmopolitan“ und „Time-Magazine“ mit einem rechten Schwinger auf den Papiermüll.

Gehaltvoll wie ein Teller Francesinha

Doch was zählt schon das Aussehen? Auf die inneren Werte kommt es an. Und auch in dieser Hinsicht handelt es sich um einen Volltreffer sondergleichen: ein treues, gutherziges Unterwäschemodel mit fabulösen Kochkünsten und einer ehrlichen Begeisterung für den Fußballsport sozusagen. Wer daran interessiert ist, welche Länderbesuche es letztlich ins Heft geschafft haben, sollte es schleunigst selbst lesen, eine detaillierte Aufzählung wie bei anderen Rezensionen wird es meinserseits nicht geben. Vielmehr will ich die Sternstunden literarischen Schaffens beleuchten, die sich auf so mancher Seite wiederfinden.

Auch wenn die ersten Berichte noch relativ kurz und verhältnismäßig lieblos geschrieben sind, beginnt das Herz schon nach gut 20 Seiten schneller zu schlagen, als der Prolog der Polenberichte beginnt. Kein anderes Heft versteht es derart, „von der Gemeinschaft unter jungen Männern in ausblutenden Landstrichen“ zu berichten. Die Kenntnis über die unüberblickbaren Freundschaften angereichert mit teils überraschenden Detailinformationen ist schlichtweg einzigartig. „Alles klar? Nein? Ach, macht doch nix…“

Besonders angetan war ich von den zahlreichen Ausschmückungen mit realen und fiktiven Namen sowie Lebensgeschichten und Anekdoten – auch wenn der erste Polenbericht mit dem Trunkenbold Piotr eine hohe Messlatte gelegt hat, die nur ab und an wieder erreicht wurde. Kurwa, das ist Polska! Der Leser spürt förmlich, wie den Schreiberlingen ein wohlig warmes Gefühl das Herz erwärmt, wenn sie von fliegenden Sitzschalen, Pfeffersprayeinsatz und durchbrochenen Begrenzungszäunen erzählen. Ein wahres Werk der Romantik. Die polnisches Sprachkenntnisse tragen dazu nur Positives bei.

So sehr ich mich im Nachhinein an der Tour nach Italien und Kazakhstan – Familienkutsche und Rezeptionist Nurzhan – sowie an dem „gefährlichen“ Ausflug nach Algerien samt Visawahnsinn und FIFA-Dokumenten erfreue, den Vogel abgeschossen hat ein ganz anderer Bericht. Normalerweise muss ich mich bei Rio de Janeiro zwingen, die Lust am Lesen nicht zu verlieren, doch insbesondere die Niederschrift einer WhatsApp-Sprachnachricht hat dieses Erlebnis für mich so greifbar, so einzigartig gemacht, dass ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich von einem der besten Beiträge aller Zeiten spreche. Jeder, aber wirklich jeder sollte sich dieses Erlebnis bei einer Funk-Favela-Party zu Gemüte führen.

Nach zwei Abenden Lesevergnügen bin ich traurig und euphorisch zugleich. Die letzte Seite ist gelesen, das letzte Bild betrachtet. Hoffentlich kommt bald die nächste Ausgabe. Ein sonderlich geduldiger Mensch war ich schließlich noch nie.